Das Kind, das den Regen hörte

Es war einmal ein Kind namens Nia, das gerne lauschte.
Nicht auf Worte, sondern auf Geräusche, die niemand beachtete:
das Knacken der alten Treppe, das Summen der Teekanne,
und ganz besonders – den Regen.

Wenn es regnete, setzte sich Nia unter das undichte Dach ihres Hauses.
Dort tropfte es leise auf den Boden, und Nia hörte zu.
Nicht wie andere Kinder, die sagten: „Oh, wie nass!“
Sondern wie jemand, der wusste: Der Regen spricht.

Eines Tages nahm Nia kleine Zettel und schrieb auf,
was sie glaubte zu hören:
„Ich bin Tropf Nummer eins. Ich komme von einem Baum.“
„Ich bin Tropf Nummer sieben. Ich habe eine Geschichte über eine Katze.“
„Ich bin Tropf Nummer zwölf. Ich bin traurig, weil niemand zuhört.“

Die Großmutter, die sonst nur Tee trank und schwieg,
fand die Zettel auf dem Tisch.
Sie las sie – und lächelte.
Nicht, weil sie alles verstand, sondern weil sie spürte:
Da war etwas Echtes.

Am nächsten Tag regnete es wieder.
Nia schrieb neue Zettel.
Die Großmutter las sie laut vor.
Und plötzlich hörten auch die Nachbarn zu.

Der Regen wurde ein Lied.
Die Tropfen wurden Geschichten.
Und Nia wurde zur Hüterin der Tropfen.

Wenn du heute in einem Haus mit undichtem Dach sitzt,
und es tropft leise neben dir –
dann hör genau hin.
Vielleicht spricht der Regen.
Vielleicht spricht Nia.
Vielleicht sprichst du.

 

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