Mystischer Katechismus

Katechismus 03

Das dritte Hauptstück: Das Vaterunser

Aufbau: BitteLuther sagt (klassische Erklärung) – Wir sagen (mystisch-heilende Lesart).

Wie wir hier sprechen

Gott

Wenn wir hier von Gott sprechen, meinen wir nicht eine übermenschliche Person außerhalb der Welt, sondern den tragenden Grund des Lebens selbst – das, was verbindet, trägt und Sinn ermöglicht.

Jesus / Christus

Jesus verstehen wir nicht als fernes Heilsgeschehen, sondern als Prototyp eines Menschen, der aus dieser Tiefe gelebt hat: frei von Angst, Macht und religiöser Absicherung. „Christus“ bezeichnet hier eine mögliche menschliche Haltung – kein exklusiver Titel.

Heiliger Geist

Der Heilige Geist ist für uns keine eigene göttliche Person, sondern die erfahrbare Bewegung von Lebendigkeit, Erkenntnis und Wandlung – dort, wo Menschen innerlich wach werden.

Hinweis

Luther spricht im Rahmen seiner Zeit und Theologie. Wir lesen mystisch-heilend: nicht als Drohung, sondern als Einladung zu Klarheit, Würde und Liebe.

Das Vaterunser (Kurzform)

  1. Anrede: Vater unser im Himmel
  2. 1. Bitte: Geheiligt werde dein Name
  3. 2. Bitte: Dein Reich komme
  4. 3. Bitte: Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden
  5. 4. Bitte: Unser tägliches Brot gib uns heute
  6. 5. Bitte: Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben
  7. 6. Bitte: Und führe uns nicht in Versuchung
  8. 7. Bitte: Sondern erlöse uns von dem Bösen
  9. Schluss: Denn dein ist das Reich … (Amen)

Inhalt

Die Anrede und die sieben Bitten

0 Vater unser im Himmel

Luther sagt

Gott will uns damit locken, dass wir glauben sollen, er sei unser rechter Vater und wir seine rechten Kinder, damit wir getrost und mit aller Zuversicht zu ihm kommen wie liebe Kinder zu ihrem lieben Vater.

Wir sagen

Diese Anrede ist ein Schutzsatz gegen Einsamkeit: Du betest nicht ins Leere. Du betest in Beziehung. Und „unser“ ist die stille Erinnerung: Ich bin nicht getrennt – ich gehöre dazu. Himmel heißt: größer als mein Kopf, weiter als meine Angst, tiefer als mein aktueller Tag.

1 Geheiligt werde dein Name

Luther sagt

Gottes Name ist an sich heilig; aber wir bitten, dass er auch bei uns heilig werde. Das geschieht, wenn Gottes Wort rein gelehrt wird und wir auch danach leben.

Wir sagen

Heilig wird der Name dort, wo er nicht als Keule benutzt wird. Wo man „Gott“ sagt und zugleich Menschen achtet. Diese Bitte ist ein innerer Kompass: Lass das Heilige in mir klar werden – damit meine Worte nicht verletzen, sondern aufrichten.

2 Dein Reich komme

Luther sagt

Gottes Reich kommt zwar ohne unser Bitten von selbst; aber wir bitten, dass es auch zu uns komme. Das geschieht, wenn der Heilige Geist uns durch sein Wort den rechten Glauben gibt und wir gottgefällig leben hier zeitlich und dort ewiglich.

Wir sagen

„Reich“ klingt nach Macht – gemeint ist Nähe. Diese Bitte ruft eine Welt herbei, in der Angst nicht regiert. Dein Reich kommt überall dort, wo Menschen aufhören, einander zu benutzen – und anfangen, einander zu sehen. Und manchmal beginnt es heute ganz klein: als ein einziger ehrlicher Schritt.

3 Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden

Luther sagt

Gottes guter und gnädiger Wille geschieht zwar ohne unser Bitten; aber wir bitten, dass er auch bei uns geschehe. Das geschieht, wenn Gott allen bösen Rat und Willen bricht, die uns hindern wollen, seinen Namen zu heiligen und sein Reich kommen zu lassen, und uns stärkt und erhält fest in seinem Wort und Glauben bis an unser Ende.

Wir sagen

Diese Bitte ist keine Selbstaufgabe. Sie ist ein Loslassen von innerem Zwang. „Dein Wille“ heißt: das, was Leben fördert. Wir bitten um Klarheit: dass wir nicht der Angst folgen, nicht dem Hass, nicht den alten Reflexen – sondern dem, was in uns heil macht.

4 Unser tägliches Brot gib uns heute

Luther sagt

Gott gibt das tägliche Brot auch ohne unser Bitten, auch allen bösen Menschen; aber wir bitten, dass er uns erkennen lasse, dass es seine Gabe ist, und dass wir unser tägliches Brot mit Danksagung empfangen. „Tägliches Brot“ heißt alles, was zu Leib und Leben gehört: Essen, Trinken, Kleidung, Haus, Hof, Geld, Gut, fromme Ehe, fromme Kinder, gute Regierung, Frieden usw.

Wir sagen

Brot ist nicht nur Nahrung – Brot ist Erdung. Diese Bitte erlaubt dir, klein zu werden, ohne dich zu schämen: Heute. Nicht alles. Nicht perfekt. Gib mir, was ich brauche: Stabilität, Wärme, Schutz, einen klaren Kopf – und Menschen, die mich nicht zerreißen.

5 Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben

Luther sagt

Wir bitten, dass Gott unsere Sünden nicht ansehen und um ihretwillen solche Bitten nicht versagen wolle; denn wir sind dessen nicht wert, was wir bitten, haben’s auch nicht verdient, sondern er wolle es uns alles aus Gnaden geben. Denn wir sündigen täglich viel und verdienen nichts als Strafe. Darum wollen auch wir herzlich vergeben und gern wohltun denen, die sich an uns versündigen.

Wir sagen

Vergebung ist nicht Vergessen. Sie ist Entgiftung. Diese Bitte will dich aus dem inneren Gefängnis holen: aus Selbsthass, aus Dauerscham, aus dem „Ich komme nie raus“. Und Vergeben heißt nicht, dass du dich wieder ausliefern musst – es heißt: ich trage den Schmerz nicht mehr als Waffe in mir.

6 Und führe uns nicht in Versuchung

Luther sagt

Gott versucht zwar niemand; aber wir bitten, dass Gott uns behüte und bewahre, dass uns der Teufel, die Welt und unser Fleisch nicht betrügen noch verführen zu Unglauben, Verzweiflung und anderen großen Lastern und Schanden, und ob wir gleich angefochten werden, dass wir doch zuletzt überwinden und den Sieg behalten.

Wir sagen

Versuchung ist oft kein „böser Spaß“, sondern ein alter Fluchtweg: betäuben, überdrehen, angreifen, weglaufen, alles kontrollieren. Diese Bitte ist: Halte mich in der Wahrheit, wenn es wackelt. Gib mir den einen Moment zwischen Impuls und Tat – in dem ich mich neu entscheiden kann.

7 Sondern erlöse uns von dem Bösen

Luther sagt

Wir bitten in dieser Bitte, dass uns der Vater im Himmel von allem Übel an Leib und Seele, Gut und Ehre erlöse und zuletzt, wenn unsere letzte Stunde kommt, uns ein seliges Ende schenke und gnädig von diesem Jammertal zu sich nehme in den Himmel.

Wir sagen

„Das Böse“ ist alles, was Leben zerdrückt: Gewalt, Verachtung, Lüge, Entwürdigung – und auch das innere Gift, das sich festsetzt. Diese Bitte ist ein großes Ausatmen: Zieh mich raus aus dem, was mich zerstört. Erlösung kann plötzlich sein – oder langsam, in Schritten. Aber sie beginnt, sobald du wieder atmen kannst.

Schlusssatz & Frage

Das Vaterunser ist kein Zauberspruch. Es ist eine Ordnung fürs Herz: erst Ausrichtung – dann Erde – dann Befreiung.

Frage: Welche Bitte ist heute deine – nicht als Pflicht, sondern als Rettungsleine?